Der zu große Weihnachtsbaum

 

Manfred, der jüngste der drei Brüder der Familie Gerlach, erinnert sich an viele lustige Erlebnisse und erzählt: In meiner Heimatstadt besaß mein Vater – Ferdinand hieß er – ein Möbelhaus und eine dazu gehörige Tischlerei. Neben anderen Handwerkern, die in einem größeren Betrieb immer gebraucht werden, hatte mein Vater einen äußerst tüchtigen Tischlergesellen in Lohn und Brot.

Hermann, Hermann Hinze – den Namen werde ich nie vergessen, war aber ein wundersamer Kauz, wie uns die folgenden Geschichten zeigen werden.

Weihnachten, irgendwann in den dreißiger Jahren.

Ich war noch klein, ging aber schon in die zweite Klasse der Volksschule. Muss also sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Im Speisezimmer – dem Heiligtum der Familie – sollte ein großer Weihnachtsbaum aufgestellt werden. Es war unser Prunkzimmer, weil es mit erlesenen Möbeln ausgestattet war und eine Stuckdecke besaß, in der einzelne Ornamente sogar mit Blattgold überzogen waren. Aus alter Tradition musste der Weihnachtsbaum in diesem Zimmer und nur in diesem Zimmer aufgestellte werden.

Mit dem Aufstellen des Baumes wurde Hermann beauftragt. Ich stand als Knirps dabei und guckte neugierig zu, wie Hermann und ein Lehrling sich mit dem riesigen Baum abmühten.

Mein Vater hatte währenddessen in seinem Arbeitszimmer, das gleich nebenan lag, eine Besprechung mit einem Vertreter und war in ein intensives Gespräch vertieft.

Hermann und der Lehrling quälten sich ab, den viel zu großen Baum in die richtige Stellung zu bringen. Ob sie das wohl schaffen, dachte ich bei mir, der sich aus vorsichtiger Entfernung das Geschehen anschaute.

Sie probierten und probierten, rückten den Baum mal hier hin, mal dort hin, doch nirgendwo fanden sie den richtigen Platz für das Riesenexemplar. Der Baum war einfach zu hoch. Ihn zu kürzen, ein Ende abzuschneiden, das wagten sie nicht.

Schließlich wurde es Hermann zu bunt.

Lauthals rief er in seinem Berliner Dialekt durch die Tür, mitten in das Vertreter-Gespräch hinein: „Herr Jerlach, der Baum is’ zu jroß. Wat soll ick machen?“

Mein Vater Ferdinand, aus dem Gespräch gerissen und deshalb etwas ungehalten: „Mensch, Hinze, dann bohre doch ein Loch in die Decke!“

Das war natürlich nur aus der Augenblick-Situation heraus gesagt und nicht ernst gemeint.

Doch was tat Hermann?

Der nahm die Aufforderung meines Vaters ernst, bohrte mit einem Handbohrer, der bekanntlich kaum Geräusche verursacht, ein Loch in die Decke und schob die Tannenbaum-Spitze da rein.

Au weia, ich kannte meinen Vater und wollte das Donnerwetter, das unweigerlich kommen musste, nicht mit anhören. Also verkrümelte ich mich heimlich, still und leise.

Was sich zwischen den beiden abgespielt hat, weiß ich nicht.

Fest steht jedenfalls, dass das Loch in der Decke blieb, mehrere Deckenrestaurierungen überstand und bei jeder Restaurierung mit einem Goldrand umgeben wurde, neben dem – klein, aber doch erkennbar von unten – die Jahreszahl des Geschehens festgehalten wurde.